Loste Place - Und trotzdem wir

Leseprobe von Teil 2 meiner Reihe Lost Place

Leseprobe 

Willkommen zu einem kleinen Einblick in Lost Place – Und trotzdem wirTeil 2 von „Ich sehe dich“.
Eine Geschichte über Einsamkeit, Mobbing, Freundschaft –
und darüber, was diese aushalten kann und manchmal muss.

Hier könnt ihr in Kapitel 6 hineinschauen:
„Lebe wohl, Osterhase – willkommen bei so isses.“

Es ist kein lautes Kapitel.
Kein großer Knall.
Nur ein Moment im Leben eines Jungen, der lernt, wie still Verlust sein kann — und wie laut es wird, wenn die Welt nicht mehr passt.

Ich liebe dieses Kapitel besonders, weil es zeigt:
Mut hat viele Gesichter – manchmal sieht er aus wie bloßes Durchhalten.

Kapitel 6

„Lebe wohl, Osterhase – willkommen bei so isses.“

Auch anderswo waren sie gerade mit dem Mittagessen fertig.
Wie so oft saß Simon allein an dem gediegenen, viel zu großen Esstisch.
Jeder Influencer hätte sich um das Ambiente gerissen – doch bei aller Eleganz fehlte dem Raum etwas Entscheidendes: Wärme.

Seine Mutter, Vanessa, aß grundsätzlich nichts zu Mittag.
Sie hatte einen festen Plan, von dem sie nie abwich.
Ein Smoothie zum Frühstück, zwei Zwischenmahlzeiten aus Obst, abends Low Carb.
„Von nichts kommt nichts“, sagte sie immer.
Simon hatte sie nie mit Appetit essen sehen.
Nicht so lange er denken konnte. 

Simons Vater war immerhin zum Abendbrot da.
Für sie beide gab es mit Carbs – natürlich. Sein Vater trainierte das in ordentlicher Weise ab.
Wann eigentlich? fragte sich Simon seit kurzem.
Wenn er doch angeblich den ganzen Tag arbeitete?
Am Wochenende die kleine Laufrunde, die Simon mit ihm absolvieren musste?
Oder auf dem Tennisplatz, wo eigentlich nur seine Mutter trainierte – während sein Vater nicht trainierte, sondern auf der Terrasse saß und Reden schwang.

Simon spürte das schon früher, aber erst jetzt begann er, es wirklich zu sehen.
Er fragte sich, wann er aufgehört hatte, alles zu glauben, was seine Eltern ihm seit frühester Kindheit erzählten.
Irgendwann in den letzten Monaten war dieser Urglaube verloren gegangen.
So wie man plötzlich nicht mehr an die Zahnfee glaubte.
Oder an den Osterhasen.
Er konnte sich nicht erinnern, wann genau es passiert war.
Nur, dass es sich nicht wie Befreiung angefühlt hatte.
Sondern wie Verlust.

Simon überlegte, was Esstisch auf Japanisch hieß
und ob es in Japan überhaupt klassische Esstische gab.
Er starrte auf die blank polierte Tischplatte,
auf das sorgfältig gedeckte Geschirr,
das aussah, als hätte jemand ein Foto für einen Möbelhauskatalog gemacht
und dann vergessen, es wieder wegzuräumen.

Sein Teller war halb leer.
Das Essen lauwarm.
Wie immer.
Er nahm eine Gabel voll, kaute mechanisch,
ohne dass er den Geschmack wirklich wahrnahm.
Irgendwas mit Quinoa und Spargelspitzen –
oder vielleicht Couscous.
Es spielte keine Rolle.
Es war Essen.
Es war Pflicht.
Wie alles hier.

Er lehnte sich zurück und sah zur Decke,
wo der Kronleuchter hing,
klinisch sauber,
kalt wie der Raum darunter.

Vielleicht gab es in Japan gar keine Tische wie diesen,
dachte Simon.
Vielleicht saßen sie auf Kissen,
aßen von niedrigen Tafeln,
sprachen wenig und dachten viel.

Er ließ den Gedanken treiben,
weil er hier sonst nichts hatte,
woran er sich festhalten konnte.

Mit einem sanften, kaum hörbaren Geräusch öffnete sich die Verbindungstür zum Nebenzimmer.
Frau Seiffert steckte den Kopf herein,
die Haare akkurat hochgesteckt,
die Schürze makellos.
„Bist du mit dem Essen fertig, Simon? Kann ich abräumen oder möchtest du noch etwas?“
Simon sah sie nur an und schüttelte den Kopf.
Er wischte sich den Mund ab,
legte die Serviette ordentlich neben den Teller,
schob seinen Stuhl zurück und ging wortlos an ihr vorbei in sein Zimmer.

Hinter sich hörte er sie noch rufen:
„In einer halben Stunde kommt Herr Weiß wegen der Hausaufgaben.
Bitte lasse ihn selbst herein, ich fahre jetzt einkaufen.“
Simon dachte kurz daran, etwas zu sagen.
Aber was sollte er sagen?
Guten Appetit? Viel Spaß beim Einkaufen?

Er schob die Gedanken weg und schloss leise die Tür hinter sich.

Er ließ sich auf sein Bett fallen, zog die Kopfhörer vom Hals, klappte das Heft auf dem Nachttisch auf und starrte hinein, ohne wirklich zu lesen.

Da ging die Tür einfach auf.
Ohne Klopfen.

Marvin trat ein. Schlurfend, selbstgefällig.

„Hey, Ahlbeck.“

Simon hob nicht einmal den Kopf.
„Marvin“, sagte er tonlos.

Er blätterte um, ohne hinzusehen.

„Wie bist du hier reingekommen, du Lurch? Ich habe weder Klingeln noch Klopfen gehört.“

Marvin zuckte mit den Schultern, grinste schief, als hätte er ein Geheimnis auf Lager.
„Türen waren offen. Wie immer bei euch.“

Er warf sich in den Schreibtischstuhl, zog sein Handy hervor und scrollte gelangweilt.

Simon ignorierte ihn.
Marvin tippte ein paarmal, dann hob er den Blick.

„Hab gestern ’nen Lambo gesehen“, warf er hin. „Matt schwarz. Tiefergelegt.“

Simon schnaubte leise, schlug das Heft zu und sah ihn endlich an.
Der Blick war kühl, das Grinsen kam langsam, fast bedauernd.

„Lambo? Du?“

Er lehnte sich zurück.

„Willst du damit deine Mutter nach Feierabend aus ihrem Rotlicht-Club abholen?“

Marvin erstarrte für einen Sekundenbruchteil.
Nur ein Zucken um die Mundwinkel verriet, dass der Satz gesessen hatte.

Normalerweise – ein anderer Tag, ein anderer Typ – hätte er vielleicht was gesagt.
Was Schnoddriges, was mit „Weißte was, Schnöselbrut? Mach deinen Scheiß alleine.“

Aber das hier waren fünfundzwanzig Euro. Die Stunde.

Nur fürs Sitzen. Nur fürs Dasein.

Marvin tippte weiter, als wäre nichts gewesen. Grinste schief, ohne dass es die Augen erreichte.

Simon wandte sich wieder seinem Heft zu.
Ein guter Deal, dachte er.

Marvin wollte nichts von ihm, und er nichts von Marvin.
Ein fairer Tausch.

 

Später Nachmittag.
Das Licht kroch flach durch die schmalen Fenster, zeichnete Streifen auf den Boden, als hätte jemand die Welt in Barcode geschnitten.

Simon saß auf seinem Bett, die Schultern vornübergebeugt, die Hände über der Tastatur seines Laptops – nicht irgendein Laptop, sondern ein schwarzer Predator Helios, die Tasten leuchteten blutrot unter seinen Fingern.
Schnell, leise, brutal effizient – genau, wie er es mochte.

Er hatte den Browser geöffnet, schlug sich durch YouTube.
Keine Reaktionsvideos, kein belangloses Geplapper.
Er wusste genau, wonach er suchte.

Babymetal – Road of Resistance.

Als das Video lud, lehnte er sich zurück, schob die Kopfhörer – Studioqualität, noise-cancelling, natürlich – über die Ohren.
Kaum hörbar klickte er die Lautstärke hoch. Fast voll aufgedreht.

Mit den ersten Gitarrenriffs schloss er die Augen.

Es gab nicht viele Dinge, bei denen Simon sein Innerstes nicht verraten musste.
Aber diese Musik, wild, fremd, japanisch, donnernd wie ein Sturm – sie war eine dieser Fluchten.
Ein Ort ohne Verpflichtungen. Ohne Masken.

Während die drei Frontmädchen über die Bühne wirbelten, während die Gitarren Soli schnitten wie Skalpellklingen, ließ Simon los: den Ärger, die Enge, die blöden Sprüche aus der Schule, das stumme Vorwurfsgesicht seines Vaters.

Hier war er nichts.
Hier war er alles.

Er spürte den Bass, wie er ihm in die Knochen kroch, sein Herzschlag ein bisschen zu schnell, ein bisschen zu frei.

Als das Lied endete, blieb er reglos.

Der Laptop surrte leise.
Der Tee auf dem Tisch war kalt.
Draußen bellte ein Hund, verzweifelt, monoton.

Langsam öffnete Simon die Augen.
Ein Moment noch, dann würde er die Welt wieder zulassen. Noch einen einzigen Moment.

Er hörte das leise Knacken der Haustür, gedämpft durch Flur und Zimmerwände.

Dann Stimmen.
Die gleichmäßige, geschliffene Tonlage von Frau Seiffert – und eine zweite, hellere, mit diesem schneidend fröhlichen Unterton, den Simon sofort erkannte:
Vanessa Ahlbeck, seine Mutter.

Natürlich.

Er schloss die Augen wieder, atmete langsam aus.

Klar, dass die Welt genau jetzt zurückkam.
Und zwar mit High Heels und Parfüm, mit betontem Lachen und klirrenden Schlüsseln.

Simon saß reglos da, den Laptop noch immer auf den Knien, die Kopfhörer schief über ein Ohr gerutscht.

Einen Moment noch, dachte er.
Dann war es vorbei.

 

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